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IV.6. Die Religion der römischen Kirche und das reformatorische Glaubensverstaendnis

a) Christlicher Glaube in der Ausprägung der römischen Kirche

Es ist bereits in der Deutung der Kainsgeschichte aufgezeigt worden, dass der Mensch schon am Anfang seiner Geschichte über eine eigenartige Fähigkeit verfügte. Obwohl es ihm gelang, sich der väterlichen Gewalt zu entledigen, konnte er auf die schützende und Ordnung setzende Macht des Vaters nicht verzichten und übertrug daher diese Macht auf eine göttliche Instanz, die dann in der Gestalt Jahwes die Züge eines absolut herrschenden Urvaters annahm.

In der Entwicklungsgeschichte des Menschen war dies sicher ein bedeutender Vorgang, da die Autorität sich nun von der Person des Stärksten innerhalb einer Gruppe ablöste und in der Gottheit überzeitlichen Charakter gewann. Der Wille der Gottheit überdauerte Generationen und begünstigte die Bildung größerer Gemeinschaften, da die Furcht vor dem göttlichen Zorn zu sittlichen Normen führte, die ein geordnetes Leben in größeren Gemeinschaften ermöglichten.

Die Übertragung der höchsten Autorität vom Herrn einer Horde auf die Gottheit bedeutete aber auch zugleich eine Distanzierung von der Macht, die dem Menschen ein größeres Maß an Freiheit ermöglichte.

Die Beschreibung eines derartigen Entwicklungsvorganges beschränkt sich natürlich auf die rational zugängliche Seite der religiösen Bindungsfähigkeit und weist darauf hin, dass ein Übertragungsvorgang dieser Art die religiöse Bewusstseinsbildung stark beeinflussen kann. So können sich Erwartungen und Ängste einer religiös verbundenen Gruppe bei ihrem durch Umwelt und Landschaft bedingten Existenzkampf in der Gottheit spiegeln.

Die kriegerischen Nomadenstämme in dem durch politische und kriegerische Wirren und durch Naturkatastrophen so häufig heimgesuchten Lebensraum erleben daher auch Jahwe als eine zornmütige, unberechenbare Gottheit, die eifersüchtig ihre Hoheitsrechte zu wahren weiß.

Auch als der Gott Israels lassen seine Gebote und Strafen in ihrem sittlichen Charakter die Mentalität kriegerischer Nomadenstämme durchscheinen. Saul wird verworfen, weil er einem Ausrottungsbefehl Jahwes nur unvollständig nachkommt, David dagegen erfährt als ein Ehebrecher und Mörder sehr schnell bei nur geringfügiger Buße die Vergebung Jahwes und wird nicht daran gehindert, die Witwe seines Opfers zur Frau zu nehmen (1. Samuel 15 und 2. Samuel 11). In der spätjüdischen Zeit wird dann dieser Gott die Hoffnung eines politisch gescheiterten Volkes sein, auf dessen gewaltiges Kommen man wartet. Der gottgesandte Messias wird in einem Strafgericht die Jahwe widerstrebende Menschheit vertilgen und den gehorsamen Rest in einem Friedensreich sammeln (Zephanja 1–3).

Auf dem Boden dieser religiösen Vorstellungen war es für Jesus von vornherein unmöglich, als ein Messias im jüdischen Volk Anerkennung zu finden. Denn seine Person eignete sich nicht zu einer Übertragung dieser Gottes- und Messiasvorstellung auf ihn. Er hat es daher auch brüsk abgelehnt, sich diesen Messiaserwartungen entsprechend zu verhalten (Markus 8, l0f.).

Das befremdete sogar seine engsten Vertrauten, die es nicht fassen konnten, dass er auf die Bekundung messianischer Macht verzichtete und nicht energisch daranging, rücksichtslos Macht an sich zu reißen und zu gebrauchen.

Erst mit seiner Hinrichtung wird ihnen klar, dass Gott der ganz andere ist, nicht der gefürchtete absolute Herrscher, sondern der Partner des Menschen, der um das Vertrauen seines Geschöpfes wirbt. Er bindet sie nicht an ihre Schuld, sondern entlässt sie ohne Zorn in eine Freiheit, in der sie ja oder nein zu ihm sagen können. Das aber ist der Freiheitsraum, den der Mensch braucht, um wirklich vertrauen zu können.

Aber diese neue Gotteserfahrung wurde zunächst nur von jüdischen Menschen gemacht, die fest im Glauben ihrer Väter verwurzelt waren. Glaubensüberzeugungen aber kann man nicht von einem Tag zum anderen wie ein Kleid wechseln. Nur so ist es zu verstehen, dass die geschichtliche Gestalt Jesu von der religiösen Vorstellungswelt des israelitisch-jüdischen Jahwe-Glaubens überdeckt wurde.

So wurde auch die Übernahme des christlichen Glaubens durch Völker ermöglicht, deren Gemeinschaftsformen in ähnlicher Weise wie bei den Juden auf patriarchalischer Ordnung beruhten. Zusammen mit der Ablösung des christlichen Glaubens vom jüdischen Gesetz war so die Voraussetzung geschaffen, dass die biblische Vatergottheit das Erbe sämtlicher Religionen übernehmen konnte, die sich aus dem Vaterbild entwickelt hatten.

Dem durch Christus vermittelten Glauben an den Vater konnte sich nun das strenge Bild der jüdischen Vatergottheit verbinden. Aus lebendigem Glauben vermittelt, war es den verblassten heidnischen Gottheiten an religiöser Aussagekraft weit überlegen und wurde so zum tragenden Element einer in ihren alten Ordnungen zerbröckelnden Welt.

Der römischen Kirche wurde auf diese Weise der Weg vorgezeichnet. Ihre Verwurzelung in der urkirchlichen Tradition ließ sie zu einer geistigen Größe werden, die in ihrer Gebundenheit an die archaische Vatergottheit auch die politische Macht über alle Völker der Erde für sich in Anspruch nehmen konnte, so dass sich die Gestalt des gekreuzigten Jesus, der keine Macht in diesem Sinne angestrebt hatte, im Rahmen dieser Kirche wie ein Fremdkörper ausnahm.

Der Glaube an die Menschwerdung Gottes aber gestattete der römischen Kirche nun die Schaffung einer Übertragungsreihe, durch welche die römische Kirche eine ihrem Geiste entsprechende Gestalt gewinnen konnte.

Seit dem 5. Jahrhundert bezeichnete sich der Bischof von Rom als Nachfolger des Apostels Petrus, der nach einer Legende der erste Bischof von Rom gewesen sein sollte. Der römische Bischofssitz wurde zum Heiligen Stuhl, der Inhaber dieses Stuhles aber nahm die Würde eines Stellvertreters Christi auf Erden für sich in Anspruch. Der Stellvertreter Christi wurde dann bezeichnenderweise zum Papa, zum Heiligen Vater, ausgestattet mit der Würde und den Machtbefugnissen eines Repräsentanten der archaischen Gottheit.

Diese Entwicklung zeigt, in welch einem Ausmaß es dem Übertragungsbedürfnis gelang, die Gestalt Jesu mit Projektionen zu belegen, die seiner Wesensart, wie sie im Kreuzesgeschehen in Erscheinung tritt, nicht entsprachen. So konnte er einem religiösen Gebilde eingefügt werden, das in seinem Namen eine Macht für sich beanspruchte, die er selbst von sich gewiesen hatte. In seinem Namen wurde der Mensch unter Androhung der Verdammnis kirchlicher Autorität unterworfen, während er selbst den Menschen in die unbequeme Freiheit verantwortlicher Entscheidung entlassen hatte.

So hatte sich die Religion, verstanden als das Urverlangen des Menschen, Gottes mächtig zu werden, auch der Gestalt Jesu bemächtigt und dieses Streben dann in der römischen Messe unmissverständlich zum Ausdruck gebracht.

Die durch den Priester vollzogene Wiederholung der Opferung Christi entspricht im wesentlichen der alttestamentlichen Passahfeier, die den Triumph über die Gottheit demonstrieren sollte.

Luther hat wohl als erster diese Zusammenhänge durchschaut und die römische Messe als eine Gotteslästerung empfunden.

So wendet er sich 1522 in seiner Schrift "Von dem Missbrauch der Messe" gegen die Verfälschung der Abendmahlshandlung:

"Sagt uns, ihr Pfaffen Baals, wo steht geschrieben, dass die Messe ein Opfer ist? Oder wo hat Christus gelehrt, dass man gesegnetes Brot und Wein Gott opfern soll? Christus hat einmal sich selbst geopfert, er will von keinem andern hinfort geopfert werden ...

Ich fürchte aber, ja ich weiß leider, dass euer Opfer ist, Christum wieder opfern, wie das zu Hebräer 6, 6 verkündigt ist: ,Sie kreuzigen wiederum ihn selbst, den Sohn Gottes, und haben ein Spott daraus; also dass auch euer Opfer nichts anders ist, denn Christum von neuem an noch einmal kreuzigen'." [72]

Diese Attacke gegen die römische Kommunionspraxis macht deutlich, wie vielschichtig Luthers reformatorischer Kampf war. Er bekämpfte nicht nur die Autorität des Vaters, die sich ihm auch in der Gestalt des Papstes und in dem Glauben an die archaische Gottheit entgegenstellte, sondern es wurde zugleich auch ein Kampf um Jesus, den er in seiner ursprünglichen Gestalt wieder zu Gesicht bekam, als er sich aus der Vaterbindung zu lösen versuchte. Wir werden sehen, dass ihm der Protest, der das Reformationsgeschehen auslöste, nicht ohne die Begegnung mit dem Geist dieses Jesus möglich gewesen wäre.

b) Der Protest Luthers

Als Luther im Jahre 1515 das dritte Kapitel des Römerbriefes auslegte, gab er zum 22. Vers folgende Erläuterung:

"Die Ketzer ... bekennen und rühmen sich, dass sie an Christus glauben, indem sie sich an das halten, was die Evangelien von ihm berichten: ,geboren', ,gelitten', ,gestorben' usw. Aber sie glauben nicht an das, was sein ist. Was ist denn dies?

Die Kirche und jegliches Wort, das aus dem Munde eines Oberen der Kirche hervorgeht oder das Wort eines frommen und heiligen Jüngers Christi ist; denn dieser sagt: ,Wer euch hört, höret mich' (Lukas 10, 16).

Was ist der Mund Gottes? Der des Priesters und der Oberen." [73]

Aus diesen Worten spricht noch der römisch-katholische Priester und Lehrer der Theologie, dem die untrennbare Einheit von Gott und Kirche eine Selbstverständlichkeit bedeutet. Wenn Luther den Priester als den Mund Gottes bezeichnen kann, dann deshalb, weil er Glied einer Hierarchie ist, an dessen Spitze der Papst steht. Es würde der Glaubensüberzeugung des katholischen Luther entsprechen, wenn man behauptete, der Papst als der Stellvertreter Christi sei die Verkörperung göttlicher Wesenheit in der Welt, so dass der Papst mit Recht von sich hätte sagen können: "wer mich sieht, der sieht Christus".

Ketzerisch ist also auf jeden Fall, das Wort Christi unmittelbar aus den Evangelien als göttliche Wahrheit auf sich wirken zu lassen, da der Papst nunmehr allein über die Vollmacht verfügt, im Namen Christi über göttliche Wahrheit oder ketzerischen Irrtum zu befinden.

Diese Lehre vom Amt des Papstes gab der römischen Kirche die große Standfestigkeit, mit der sie alle Stürme im Laufe der Jahrhunderte bestehen konnte. Die behauptete, heute aber auch im Raum dieser Kirche in Frage gestellte apostolische Autorität des Papstes gab den päpstlichen Lehrentscheidungen ein Gewicht, das einen Streit über die Lehre wirksam unterbinden konnte.

Die römische Kirche musste aber einen hohen Preis dafür bezahlen, dass sie ein menschliches Amt in einem vorgeblich irrtumsfreien göttlichen Bezirk ansiedelte. Die Übertragung von Wesenszügen Jahwes auf die Gestalt Jesu, die sich schon in den synoptischen Evangelien durchsetzen konnte, wurde von der römischen Kirche weitergeführt. Der alttestamentliche Gott, den der Verfasser des Johannes-Evangeliums verhüllt, aber deutlich als Satan zu bezeichnen wagte, war zum Vater Jesu geworden, so dass der Geist Jesu infolge dieser eigenartigen Verschmelzung mit Jahwe in der römischen Kirche gleichsam ausgesperrt wurde. So wurde Jesus ein Gefangener der römischen Kirche. Sein Stellvertreter scheint ihn besiegt zu haben, indem er in apostolischer Autorität den unauffälligen Sieg einer Zuwendung Gottes zum Menschen mit der Herrenmacht Jahwes verquickte, so dass dem päpstlichen Namen nun selbst eine Majestät verliehen wurde, vor der man sich fürchtete. In einem Brief an Papst Leo vom Jahre 1518 beklagt sich Luther über die Feigheit der Menschen, die ihn im Ablassstreit alleinließen, "denn", so schreibt er, "der Schreck vor Ew. Heiligkeit und die Drohung des Banns waren zu mächtig." [74]

Es sollte sich dann aber zeigen, wie gefährlich es für eine Kirche sein kann, im Namen Jesu Machtpolitik zu betreiben.

Solange der päpstliche Name noch von der Glorie göttlicher Autorität umgeben war, konnte eine dem Geist der römischen Kirche widersprechende christliche Verkündigung wirksam unterdrückt werden. Johann Huß hatte man noch 1415 gegen den Willen des römischen Königs, der ihm freies Geleit zugesichert hatte, als Ketzer verbrannt.

Es gehört zu den Seltsamkeiten der Kirchengeschichte, dass die römische Kirche nicht an ihren Päpsten zugrunde ging. Insbesondere im 14. und 15. Jahrhundert haben die regierenden Päpste durch verunglücktes politisches Machtstreben, menschliches Versagen und durch Intrige nahezu alles getan, was ihr Ansehen als stellvertretende göttliche Macht untergraben konnte. Auch die vor dem Ereignis der Reformation regierenden Päpste waren ihrer Persönlichkeit nach dem Ansehen des Stuhles Petri nicht gerade förderlich. Alexander VI. galt als ein hemmungsloser, unsittlicher Mensch, Julius II. verzettelte seine Kraft in ständigen Kriegen, beide aber strebten in einer Weise nach Macht, die ihre geistliche Autorität abwerten musste.

Auch die Hierarchie wurde in den Verfall hineingerissen und sah sich dem Spott humanistischer Kreise ausgesetzt. In einer Posse "Julius exclusus" verhöhnte man den Papst, Erasmus und die Männer um Reuchlin gaben in Schriften voll bissiger Ironie die Ordensleute dem Gelächter der Gebildeten preis. Dennoch aber war die Kirche auch im Anfang des 16. Jahrhunderts die führende und beherrschende Macht in Europa. Der Spott blieb auf verhältnismäßig kleine Kreise beschränkt, die Masse des Kirchenvolkes aber beugte sich in einem dumpfen Gehorsam der als selbstverständlich empfundenen väterlichen Gewalt dieses archaischen Gebildes.

Luther selbst ist ein typisches Beispiel für die Zähigkeit der religiösen Bindung, die die römische Kirche infolge ihrer archaischen Struktur in dem Menschen bewirkt. Er kannte die Kritik der Humanisten, aber er lehnte sie ab. Der "Julius exclusus" war ihm ein ärgerliches Pamphlet. Seine Romreise im Jahre 1510 unternahm er offensichtlich mit geschlossenen Augen. Mit gewissenhaftem Ernst besuchte er die heiligen Stätten und war überwältigt von den Gnadenschätzen Roms. In einer Auslegung des 117. Psalms bemerkt er, dass es "ihm dazumal schier leid war, "dass seine Eltern noch lebten, da er sie gern mit seinen Messen und anderen trefflichen Werken aus dem Fegfeuer erlöst hätte [75].

Wenn Luther noch im Jahre 1519 zugeben kann, dass die römische Kirche "von Gott vor allen andern geehrt sei", und die bösen Zustände im päpstlichen Rom es niemals rechtfertigen würden, "sich von derselben Kirche zu reißen und zu scheiden," [76] dann lässt das darauf schließen, dass seine Bindung an die römische Kirche in keiner Weise durch intellektuelle Kritik gelockert werden konnte.

Im Gegenteil, sein durch persönliches Schicksal so stark ausgeprägter Glaube an eine zornige Vatergottheit fand in Lehre und Struktur dieser Kirche volle Bestätigung und führte zu schwer lösbaren Bindungen an die Glaubensform dieser Kirche.

Der Ablösungsprozess hat sich anscheinend überraschend schnell vollzogen. Mit dem Thesenstreit setzt die Kritik an der römischen Kirche ein, die auf eine höhnische Ablehnung der Autorität des Papstes hinausläuft.

Es ist schwer verständlich, wieso die verhältnismäßig harmlosen Vorgänge im Zusammenhang mit der ärgerlichen Ablasskrämerei eines Tetzels Luther veranlassen konnten, in einer so leidenschaftlichen Weise einen Bruch mit seiner Kirche zu provozieren. In Geschichte und Gegenwart der Kirche gab es genug Skandale, an denen sich eine scharfe und vernichtende Polemik hätte entzünden können. Sie alle aber können nach Luthers Ansicht einen Kampf gegen die Autorität nicht rechtfertigen [77], wohl aber die Ablässe, die er noch ein Jahr zuvor in einem Sermon über den Ablass entschieden verteidigt, wobei er sich allerdings schon damals gegen die missbräuchliche Praxis Tetzels wendet.

"Die Ablässe", so schreibt er, "sind das Verdienst Christi und seiner Heiligen und müssen deshalb in aller Ehrfurcht angenommen werden ... es ist von größtem Nutzen, dass Ablässe angeboten und genommen werden, und vielleicht will Gott in unserer Zeit, wo seine Barmherzigkeit so verachtet wird, um so reichlicher die Spenden seiner Güte durch Ablässe uns zukommen lassen ... " [78]. Zur Zeit dieser Stellungnahme stand das Ablassgeschäft Tetzels schon in voller Blüte. Unwahrscheinlich ist, dass Luther über die Hintergründe, die zur Ausschreibung dieses Ablasses geführt hatten, nicht schon damals sehr genau informiert war. Denn weiten Kreisen war es bekannt, dass die Kurie dem Erzbischof Albrecht den Ablasshandel um eine Spende von 10.000 Dukaten übertragen hatte, und nach den Abmachungen die Hälfte des Ertrages der Kasse der Kurie, der Rest aber dem Erzbischof zur Abdeckung seiner beträchtlichen Schulden zufließen sollte. Seine Kritik an dem Ablassverfahren ist daher auch schon sehr scharf, wenn er in dem Sermon feststellt, dass die Ablässe "zu einem schmutzigen Werkzeug der Habgier" geworden seien [79].

Nach Jahresfrist hat sich dann die entscheidende Wandlung in Luthers Verhältnis zur römischen Kirche vollzogen. In den Thesen ist von einem Nutzen der Ablässe nicht mehr die Rede, und der offenkundige Missbrauch dieses kirchlichen Handels dient ihm nun dazu, das Ansehen des Papstes in einer wahrhaft demagogischen Weise zu zersetzen.

Man wird kaum unterstellen können, er habe auch schon im Jahre 1516 die Ablässe nicht mehr mit Überzeugung als ein Zeichen göttlicher Barmherzigkeit verteidigt. Ein Mann, der so offen gegen den Missbrauch des Ablasswesens aufzutreten wagte und sich dadurch das Missfallen aller am Ablass interessierten Kreise zuziehen musste, wird kaum in den Verdacht einer bewussten Heuchelei geraten.

Luthers plötzlicher Wandel in seiner Einstellung zum Ablass lässt sich wohl nur recht verstehen, wenn man bedenkt, welch eine Möglichkeit sich ihm in der Auseinandersetzung mit der Ablassfrage bot, dem Gefängnis seiner Resignation zur Hölle zu entrinnen.

Er selbst hatte sich damit abfinden müssen, die Verdammnis zu ewiger Höllenstrafe als ein gerechtes Urteil Gottes über sein sündliches Wesen hinzunehmen, während die Ablassprediger sich vermaßen, den Sünder für blanke Taler im Namen der päpstlichen Schlüsselgewalt aus der Qual des Fegefeuers zu befreien. Luther hatte zu der Zeit, als er die Thesen verfasste, sehr genaue Vorstellungen über das Fegefeuer. In These 16 heißt es:

"Wie mich dünkt, unterscheiden sich Hölle, Fegefeuer, Himmel genauso wie verzweifeln, beinahe verzweifeln und des Heiles gewiss sein."

Aus dieser These spricht ein von Ängsten geplagter Mensch. Alle Aussagen, die man um diese These gruppiert findet, lassen die Angst durchscheinen, der Luther zu dieser Zeit ausgeliefert war. Er selbst weiß sich dem Sterbenden gleich, der, wie es in These 14 heißt, seine Sünde mit sich herumschleppt, an seiner Liebe zu Gott zweifeln muss und so dem Gericht Gottes mit großer Furcht entgegengeht. Er spricht aus eigener Erfahrung, wenn es in These 15 heißt:

"Diese Furcht und dieses Grauen sind an sich hinreichend (um von den anderen zu schweigen), um die Pein des Fegefeuers zu bereiten, da sie dem Grauen der Verzweiflung ganz nahe kommen."

Luther glaubt also, das Fegefeuer schon am eigenen Leibe erfahren zu haben, und hat daher auch über diesen Ort der Qual völlig andere Vorstellungen als ein Lehrer der Kirche, der sich vermisst, auf Grund biblischer Aussagen über die Läuterung abgeschiedener Seelen eine Art kirchlicher Rechtsordnung über die Instanzen göttlicher Vergeltung aufzustellen.

Wenn nun der Papst die Schlüsselgewalt über das Fegefeuer beanspruchte, musste er in ihm den Richter sehen, dessen Urteil er sich zu unterwerfen hatte. Aber wie zeigte sich ihm dieser Richter in seiner verzweifelten Lage?

Man könnte Luther mit einem Angeklagten vergleichen, der sich schwerer Verbrechen schuldig weiß und sie bekennt, nicht etwa aus dem Zwang des Überführtseins heraus, sondern weil er sich durch das Verbrechen in seiner menschlichen Existenz bedroht fühlt, so dass ihn nur eine seiner Schuld entsprechende Sühne vor innerer Zersetzung bewahren könnte.

Der päpstliche Richter kann nun dem Angeklagten gemäß kirchlicher Ablassordnung folgendes sagen:

"Wenn du deine Sünden aufrichtig bereust, will ich dich auf Grund meiner Schlüsselgewalt lossprechen von deiner Schuld. Allerdings bedarf es dazu einer Voraussetzung: Du musst mir eine runde Summe Geldes geben, und dann bist du nicht nur deine Sünde los, sondern auch die eigentlich fällige Sühneleistung kann mit diesem Betrag als abgegolten angesehen werden."

Was ein Mensch in der Lage Luthers von einem solchen Angebot seines Richters halten würde, dürfte kaum zweifelhaft sein. Zum wenigsten eines verriet dieses Verrechnungsangebot, nämlich, dass der Richter von den Anfechtungen der Verzweiflung genausoviel verstehen konnte wie der Blinde von der Farbe. Lag aber nicht auch eine geradezu lästerliche Verachtung des lebendigen Gottes vor, der in seinen Ansprüchen an sein Geschöpf mit Geld abgefunden wurde, das in die päpstlichen Kassen floss? Zudem verletzte es die Würde des Menschen, den man in seinem Gewissen betäubte, wenn sein Verhältnis zu Gott zu einem Rechenexempel erniedrigt wurde. Was war das für ein Richter? Liebte er wirklich als ein Stellvertreter Christi die hilfesuchende Seele, oder liebte er nicht viel mehr das Geld, das in einer Art seelischer Erpressung dem um sein ewiges Heil bangenden Menschen abgelockt wurde?

Man braucht nur einmal die Sätze im Anschluss an die 16. These zu lesen, um die bohrenden Fragen zu erkennen, die die Autorität des Papstes durchlöcherten und zu den scharfen Sätzen seiner Thesen führten, nachdem er sich die Fragen gewissenhaft selber beantwortet hatte:

17. These: Augenscheinlich bedürfen die Seelen im Fegefeuer Minderung des Grauens und Mehrung der Liebe.

20. These: Wenn der Papst - "vollkommenen Ablass aller Strafen" verleiht, so meint er damit nicht schlechthin alle, sondern nur die, die er selber auferlegt hat.

24. These: Wer weiß denn auch, ob alle Seelen im Fegfeuer von uns losgekauft werden wollen, wie es nach der Legende mit St. Severin und Paschalis sich zugetragen hat.

32. These: Wer durch Ablassbriefe meint, seiner Seligkeit gewiss zu sein, der wird ewiglich verdammt sein samt seinen Lehrmeistern [80].

Der Abbau der päpstlichen Autorität musste nun zwangsläufig zu einer Auflösung seiner Bindungen an die römische Kirche führen. Für ihn war Christus nicht mehr der Gefangene des Papstes, und er konnte jetzt mit gutem Gewissen das Recht für sich in Anspruch nehmen, das er noch vor zwei Jahren dem guten Christen als ein Kennzeichen ketzerischer Gesinnung entschieden verwehrt hatte, nämlich: im Glauben an Christus das für wahr zu halten, was die Evangelien von ihm berichten: "geboren, gelitten, gestorben usw.".

Erst jetzt, nach seiner Befreiung von der römischen Lehrautorität, konnte die Gnadenauffassung, wie Paulus sie im dritten Kapitel des Römerbriefes entwickelt hatte und wie er sie als Professor der Theologie ohne inneres Verstehen hatte vortragen müssen, eine befreiende Wirkung auf ihn haben. Alle Menschen sind zwar vor Gott des Gerichtes schuldig. Aber die berechnende Frömmigkeit guter Leistungen ist nun abgetan, da sie nun im Glauben an Christus die Begnadigung als ein freies Geschenk der Liebe empfangen dürfen.

Die Bedeutung des Römerbriefes für die Glaubensentwicklung Martin Luthers steht außer Frage. Man darf aber mit einigem Recht annehmen, dass Luther über die Worte des Paulus zu Glaubensaufassungen kam, die Paulus selbst ferngelegen haben.

Denn Paulus wurde ja in seinen Aussagen über Christus durch den Glauben an eine persönliche Offenbarung bestimmt, die ihn der urkirchlichen Tradition enthob, während für Luther hinter den Worten des Paulus die Evangelienberichte von Kreuz und Auferstehung Jesu standen, die seinen Glauben wesentlich geformt haben.

Dieser Unterschied im Grundansatz des theologischen Denkens blieb Luther und nach ihm auch den Vätern der reformatorischen Bekenntnisse verborgen, so dass auf dem Grund einer erneuerten Christuserkenntnis in einseitiger Überschätzung der Offenbarungen des Paulus eine Glaubenslehre entstehen konnte, die dem evangelischen Christen eine existentielle Bindung an die Kirche sehr erschwerte. Denn der eschatologisch ausgerichtete Glaube des Paulus schloss den Gedanken an eine Kirchengründung in einer bereits seiner Ansicht nach vergangenen Welt von vornherein aus.

Das Verhältnis der Theologie Luthers zu der des Paulus wird noch im folgenden eingehend untersucht werden.

In diesem Zusammenhang aber wird man einem Vorgang Aufmerksamkeit zuwenden müssen, nämlich der plötzlichen Wandlung Luthers vom stillen Gelehrten und gewissenhaften Lehrer katholischer Lehre zum trotzigen Kämpfer gegen die römische Kirche.

Schon in den 95 Thesen kommt ein Wesenszug zum Vorschein, der bisher verdeckt blieb. Wenn man bedenkt, dass der katholische Luther wohl nicht zuletzt durch den frommen Eifer unauffälliger Pflichterfüllung Wertschätzung und Förderung seiner Oberen erfuhr, dann befremdet der leidenschaftliche Hass, dem er vom Beginn seines Kampfes bis zum Ende seines Lebens vornehmlich gegenüber der Gestalt des Papstes die Zügel schießen ließ. Ein Jahr vor seinem Tod nahm dieser Hass dann nahezu pathologische Formen an, wenn er sich in seiner Schrift "Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet" ausmalt, auf welche Weise man den Papst mitsamt seinem Anhang billigerweise zu Tode bringen könnte. Dem Papst und seinen Kardinälen, so schlägt er vor, solle man "die Zungen hinten zum Halse herausreißen und an den Galgen nageln", man solle sie im Thyrenischen Meere ersäufen, oder ihnen die Haut über die Köpfe ziehen [81].

Auf diese Weise brach Luther sämtliche Brücken, die zu einer Verständigung mit der römischen Kirche hätten führen können, hinter sich ab, und es kann als ziemlich sicher gelten, dass sein Hass ihn schon bald darauf festlegte, sich die Zerstörung der Papstkirche zum Ziel zu setzen. Die niemals ermüdende Energie, mit der er in polemischen Schriften das Ansehen der römischen Kirche zersetzte, hatte nicht zuletzt im Hass ihre Triebfeder. 50 bekennt er einmal über Tisch, dass des Papstes Greuel sein größter Trost sei. "Darum sind das heillose Tropfen, die da sagen, man solle den Papst nicht schelten. Nur flugs gescholten, und sonderlich, wenn dich der Teufel mit der Justifikation (Rechtfertigung) anficht." [82] In einer polemischen Schrift gegen Heinrich VIII. gesteht er: "...meiner Feinde Zorn und Wüten ist meine Freude und Wonne, trotz dass sie mirs wehren oder verkehren. Nur ins höllische Feuer mit solchen Blumen und Früchten, da gehören sie hin." [82]

Es ist anzunehmen, dass ihm die Kraft, die ihn trotz vieler Enttäuschungen und quälender Zweifel im Blick auf die Zersetzungserscheinungen im eigenen Lager nie verließ, nicht nur aus seinem Glauben an Christus, sondern auch aus seinem Hass zufloß. Als er im Jahre 1537 Schmalkalden todkrank in der Erwartung eines nahen Endes verlassen musste, ruft er seinen zurückbleibenden Freunden zum Abschied zu: "Gott fülle euch mit seinem Segen und mit Hass gegen den Papst." [83]

Dieser Satz deckt einen seelischen Zwiespalt auf. Segen im Namen Gottes und unbedingter Vernichtungswille verbinden sich ihm zu einer selbstverständlichen Einheit.

Die Frage ist nicht von der Hand zu weisen, ob der reformatorische Impuls dieses Mannes nicht letztlich auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen ist. Diese Frage findet ihre Antwort, wenn man seinen Kampf gegen die römische Kirche als einen Akt der Notwehr versteht. Der Hass wird sich schon lange Zeit, bevor er zum Durchbruch kommt, zu seiner vollen Stärke ausgebildet haben. Er konnte sich nur keinen Ausdruck verschaffen, da er als Lästerung gegen innen schlug, in furchtbaren Gewissenskämpfen ihn selber traf und zu vernichten drohte.

Er befand sich in einer ähnlichen Lage wie der Prophet Jeremia, der sich auch versucht fühlte, Gott zu lästern, indem er ihm vorwarf, ein trügerischer Brunnen zu sein, der kein Wasser führt (Jeremia 15, I8f.), ein listiges, gewalttätiges Wesen, das ihn zu Aufgaben verlockt und schließlich gezwungen hat, an denen er unter dem Gelächter der Menschen zuschanden werden musste (Jeremia 20, 7).

Jeremia musste sich beugen und den Sieg Gottes anerkennen, da der Hass eines Menschen Gott niemals trifft, sondern immer auf den Lästerer zurückfällt. Luther dagegen gelang es, was einem jüdischen Frommen niemals hätte gelingen können, nämlich die Lästerung in einen zielgerichteten Hass zu wandeln, der nun nicht mehr auf ihn zurückfallen konnte. Denn im Gegensatz zu dem jüdisch-israelitischen Glauben, in dem der unnahbare, vom Menschenwesen streng geschiedene Gott verehrt wurde, verfügte die römische Kirche über die sichtbare Repräsentanz Gottes auf Erden.

Es hat etwas von Ironie an sich, wenn Luther gerade in der vorgeblich christlichen Milde dieses Stellvertreters der Gottheit Betrug witterte. Hätte Luther an die Schlüsselgewalt des Papstes in unbedingtem Gehorsam gegen die Lehren der Kirche geglaubt, dann hätte er sich von seinen Skrupeln loskaufen können. Aber gerade das war ihm aus der furchtbaren Erfahrung seiner Anfechtungen heraus eine unmögliche Vorstellung, so dass er in dem päpstlichen Angebot den Versuch eines Betrügers sehen musste, der ihm nicht zustehende Werte unter die Leute bringt, um auf diese Weise zu Geld zu kommen.

Nun, wo ihm die Autorität des Papstes zerfällt, erfasst er das Wesen Jesu in seinem schneidenden Gegensatz zur Macht, die seinen Namen für sich beansprucht. Voller Zorn wird er von nun ab darauf hinweisen, dass die römische Kirche in dem Versuch, Christus ihrem Machtstreben dienstbar zu machen, im Grunde als eine satanische Macht anzusehen ist. Man wird Luther zugeben müssen, dass er in seiner hasserfüllten Schrift gegen das Papsttum vom Jahre 1545 die römische Kirche des 16. Jahrhunderts richtig sah, wenn er darauf hinweist, dass die päpstliche Krone zu Rom nicht einen Bischofshut, sondern ein regnum mundi, d. h. ein weltliches Reich darstellt, und dann fortfährt:

"Diese Krone hielt der Teufel unserem Herrn Christo vor, Matthäi 4, 8, da er ihn auf den hohen Berg führet, und zeiget ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit, und sprach: ,Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest', aber der Herr sprach zu ihm: ,Heb dich weg von mir, Satan'. Wie spricht aber der Papst? ,Komm her, Satan, und hättest du noch mehr Welt, denn diese, ich wollt sie alle annehmen ... " [84]

Wenn nun Luther seinem Hass so hemmungslos die Zügel schießen ließ, dann wird man sein Verhalten nur verstehen können, wenn man sich an die Wurzel des Hasses erinnert. Der auf die Gottheit übertragene Vaterhass kann endlich an der Gestalt des Papstes seine Entladung finden. Luther kann als ein potentieller Totschläger des Papstes gelten. Mit der Erledigung des Papsttums aber glaubte er auch, sich endlich seines leiblichen Vaters entledigen zu können. Das hat Luther selbst unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, als er nach seinem Sieg in Worms das nahe Ende päpstlicher Macht vorauszusehen meinte und nun voller Siegesfreude in dem schon angezogenen Brief den Vater fragte:

"Nun schau hier, beraub ich dich abermals deiner Rechte und Gewalt? Ich halte nein, denn deine Gewalt bleibt in mir ganz, als viel es die Möncherei antrifft; aber die ist nun bei mir aus, und nichts, wie ich gesagt. Aber der mich aus der Möncherei genommen hat, hat mehr Rechts über mich, denn dein Recht ist. Denn er (Christus) ist, wie sie es nennen, allein ohne Mittel mein Bischof, Abt, Prior, Herr, Vater, Meister; sonst weiß ich keinen mehr." [85]

Luther hat offenbar zu Zeiten selber gespürt, wie wenig er dem Geist, in dessen Dienst er sich gestellt sah, gerecht werden konnte. So hat er einmal im Jahre 1540 seufzend zu seinen Tischgenossen gesagt, dass er sich oft zu zürnen pflege, weil er soviel Unreinigkeit in sich finde. "Aber was soll ich tun? Ich kann die Natur nicht ausziehen. Inzwischen hält uns Christus für gerecht, weil wir gerecht zu sein begehren, die Unreinigkeit verabscheuen und das Wort lieben und bekennen." [86]

In seiner Schrift "Wider das Papsttum zu Rom..." vom Jahre 1545 findet sich eine ähnliche Bemerkung, die noch deutlicher sein Unbehagen über die ihm eigene Kampfesart zum Ausdruck bringt:

" ... so stehets auch einem Prediger nicht an, zu fluchen, der zu segnen berufen ist. Ich rede aber meine großen Anfechtungen mit ungeschickten Worten, das wird mir mein Herr Christus verzeihen, um welchs willen ich alles tu und rede." [87]

Es wäre aber ein Irrtum, wollte man meinen, Luther habe die Kraft seines Hasses als eine unvermeidliche Schwäche der Vergebung Christi anheimgestellt. In seiner Schrift "Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern" entlädt sich ein furchtbarer Hass gegen die aufständischen Bauern, indem er dazu auffordert, die Bauern zu "würgen und stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann .... schlägst du nicht, so schlägt er dich und ein ganzes Land mit dir." [88] In Erinnerung an diese Schrift hat er dann später nach einer Tischredenaufzeichnung einmal gesagt:

"Prediger sind die größten Totschläger ... Ich, Martin Luther, hab im Aufruhr alle Bauern erschlagen, denn ich hab sie heißen totschlagen; all ihr Blut ist auf meinem Hals. Aber ich weise es auf unseren Herrn Gott, der hat mir das zu reden befohlen." [89]

Luther blieb zeit seines Lebens ein doppelt gebundener Mann. Ein vergebender Christus stand im Widerstreit mit einer auch vom Neuen Testament bezeugten zornigen Vatergottheit. Es war ihm zwar gelungen, den ohnmächtigen Hass gegen diese Gottheit auf den Papst zu verschieben und sich so ein Ventil seiner Leidenschaft, das ihn vor einer Selbstzerstörung bewahrte, zu öffnen. Aber der drohende Zorn Gottes blieb ihm eine unumstößliche Wirklichkeit. Bezeichnend für seine unlösbare Verbundenheit mit der archaischen Gottheit ist, dass ihm das Bild des Vaters, wie Jesus es im Gleichnis vom verlorenen Sohn zeichnete, fremd blieb. Weder in seinen Predigten noch in seinen Schriften bezog er sich auf dieses Gleichnis. Einmal im Jahre 1532 hatte er sich offenbar pflichtgemäß auch zur Predigt über dieses Gleichnis entschlossen, da es zum Evangelium am 3. Sonntag nach Trinitatis gehört. Angekündigt wird eine Predigt über das ganze Evangelium, Lukas 15, 1-20. In der Predigt selbst aber beschränkt er sich, wie auch sonst an diesem Sonntag des Kirchenjahres, auf eine Auslegung der beiden ersten Gleichnisse, ohne auch nur mit einem Wort das Gleichnis vom verlorenen Sohn zu erwähnen. Der Gedanke an einen Vater ohne die Kraft und den Willen zu einem vergeltenden Zorn ist anscheinend immer außerhalb seines Vorstellungsvermögens geblieben [90].

Es ist vermutlich kein Zufall, dass Luther nach der Tischredenaufzeichnung den "Herrn Gott" und nicht Christus als einen zornigen Rächer aufrührerischer Gesinnung hinstellt, um seinen Totschlag an den Bauern zu rechtfertigen.

Die zornige Vatergottheit war ihm eine selbstverständliche Gegebenheit seines Glaubens. Der Zorn Christi aber, so wie er im Neuen Testament vielfach bezeugt ist, bedeutete ihm eine ständige Anfechtung seines Glaubens. Unter dem Druck heftiger Ängste konnte er sehr klar erkennen, dass hier eine Wesenheit auf Christus übertragen worden war, die seinem Geist nicht entsprach.

So hat er in einer Predigt über Galater I, 4-5 vom Jahre 1538 die Vorstellung von einem drohenden Christus als eine Versuchung des Teufels zurückgewiesen. Der Teufel, behauptet er, "pfleget uns auch die Person Christi, unseres allertreuesten Hohenpriesters und Heilandes, so vorzumalen und einzubilden, als ob er mit den Sündern zürne und sie in den Abgrund der Hölle stoßen wolle. Denn ergreifet er etwa einen Spruch aus der Heiligen Schrift, oder ein Drohwort Christi, tut unserem Herzen flugs in einem Hui, ehe wir es gewahr werden, so einen harten Stoß damit, dass uns nicht allein aller Glaube und Zuversicht zu Christo entfällt; sondern auch von Herzen vor ihm erschrecken, dazu nicht anders meinen, es sei der rechte Christus, der uns solche Gedanken eingibt; so es doch der leidige Teufel selbst ist." [91]

Diese zeitweilig hervorbrechende Erkenntnis aber wurde niemals eine tragende Kraft seines Glaubens. Er blieb an das vom archaischen Geist jüdisch-israelitischer Gläubigkeit durchsetzte Zeugnis des Neuen Testamentes gebunden. Schon die geglaubte Einheit von Vater und Sohn musste ihn dazu nötigen, an den Zornescharakter der Gottheit trotz seiner Christuserfahrung zu glauben.

In einer Predigt über 1. Johannes 4, 16-21, wurde er einmal genötigt, sich mit einem Kernpunkt der Johanneischen Theologie auseinanderzusetzen. Die Auslegung dieses Textes, der mit den Worten beginnt: "Gott ist Liebe ... ", hat ihm offensichtlich große Verlegenheiten bereitet. Denn es galt ja nun den Nachweis zu führen, dass "bei Gott kein Zorn noch Ungnade" ist, "und sein Herz und Gedanken nichts denn eitel Liebe" enthalten. Er versucht es mit einem Bilde, das in der entscheidenden Aussage bezeichnenderweise verschwimmt. Gott wird mit einem Bienenkönig verglichen, der allein ohne Stachel inmitten der Bienen sitzt, die "um sich hauen und stechen", und ihr Leben darüber lassen. "Aber er allein ist ohne Zorn: und ob er wohl für sich niemand Leid tut, noch tun kann, noch muss er um sich haben, die da stechen können und ihn verwahren; denn sollte er so gar bloß daher fahren, so würden ihn die fremden Bienen und Hummel töten. Solchem Bilde nach ist bei Gott kein Zorn in seiner Natur und Wesen, und freilich nichts denn eitel Liebe und Güte; aber dass er allerlei Plagen lässt gehen, Hagel, Donner, Feuer, Wasser, böse, ungeheure Tiere, Hunger, Krieg, Pestilenz, Seuche und den Teufel aus der Hölle dazu, das braucht er als Stacheln um sich her, dass er bei seiner Majestät bleibe, und die Seinen schütze und tröste. Sonst würde der Teufel zu mächtig und ihm nach seiner Ehre und Krone greifen und sein Reich dämpfen, dass niemand wüsste, was Gott wäre und vermöchte, und Christus mit seinem Evangelio und Christen gar unterdrückt würden in der Welt." [92]

Völlig im Dunkeln bleibt, was nun eigentlich über Gott mit Hilfe dieses Bildes ausgesagt werden soll. Der Gedanke, Gott bedürfe des Schutzes, ließ sich mit der Majestät Gottes nicht vereinbaren. Daher behauptet Luther auch, Gott bedürfe selbstverständlich nicht des Schutzes derer, "die da stechen können und ihn verwahren". Zugleich aber überfällt ihn der Gedanke, dass eine zornlose Güte ja schutzlos den Mächten des Bösen ausgeliefert wäre, und Gott daher nicht ohne Schutz so bloß daherfahren könne.

Den Teufel selbst rechnet Luther im Bilde zu den Stacheln, die die Majestät Gottes zu schützen haben, und behauptet dann ein wenig später, dass diese Schutzwehr dazu bestimmt sei, Gottes Ehre und Krone vor der Macht des Teufels zu schützen.

Die gekünstelte und widerspruchsvolle Auslegung zeigt, wie wenig Luther etwas mit der Johanneischen Aussage "Gott ist Liebe" anzufangen wusste. In derselben Predigt schiebt er denn auch diese ihm fremde Wesensschau Gottes beiseite, indem er sich zum Glauben an den zornigen Gott bekennt, der nur im Vertrauen auf Christus seine Schrecken verliert. Die einfache und klare Sprache, die er nun zu reden weiß, verrät, dass er hier wieder aus dem Grund eigener Überzeugung spricht:

"Gegen Gott verlasse ich mich auf nichts, denn auf Christum; aber nach diesem Trotz und Ruhm will ich mit dir vor Gott treten ... Also hast du nun beides recht, dass der Glaube rühmet gegen Gott, und damit seinen Zorn stillet und wegleget, den wir sonst verdienet hätten, und allein darauf trotzet, dass wir einen Heiland haben, Jesum Christum, durch welchen wir versöhnet sind." [93]

So war Luther ein Mann, dessen Glaubensleben von unvereinbaren Gegensätzen gekennzeichnet war, die nach seinem eigenen Zeugnis an der Grenze des Tragbaren lagen. Es war seine Rettung, dass ihm der Glaube an Christus die Lösung von der römischen Kirche ermöglichte. Der Name des Papstes hatte für ihn seine Schrecken verloren. Die archaische Vatergottheit dagegen blieb ihm eine unumstößliche Realität, unantastbar bezeugt durch die Urkunden des Alten und Neuen Testamentes, bestätigt aber auch durch seine Erfahrungen im Kampf gegen eine brutale väterliche Autorität.

Wenn Luther in der bereits angeführten Tischrede (siehe Seite 102) als Heilmittel gegen die Angst vor dem drohenden Gott empfiehlt, den Papst flugs zu schelten, dann kommt darin doch wohl sehr deutlich zum Ausdruck, dass sein hasserfüllter Kampf gegen den Papst letztlich immer noch der Vatergottheit gilt. Das Wissen um diese Zusammenhänge kann auch die manchmal so anfechtbare Kampfesweise Luthers verständlich machen. Im Glauben an Christus konnte er in mitreißender Kraft den Wust kirchlicher Gläubigkeit seiner Zeit wegräumen.

Die unlösbare Bindung an die Vatergottheit machte aber auch den Hass zu einer wesentlichen Kraft seines Glaubens. Hass tritt häufig als eine gefährlich dominierende Kraft bei ihm in Erscheinung. Man sucht vergeblich in seinem Charakter, so wie er uns aus seinem Werk und aus dem Zeugnis seiner Zeitgenossen entgegentritt, nach einem Zug zur Güte. Seine Fähigkeit, sich anderen Menschen verstehend und gütig zuzuwenden, war begrenzt. Er hat in seinem Leben mehr Freunde verloren als gewonnen.

Ausschlaggebende Kraft seines Lebens blieb ihm der Glaube an Christus. Gerade, wenn man um die schweren Schatten weiß, die über dem Wesen dieses Mannes liegen, wird man auch die Stärke seines Glaubens ermessen können. Hass ist eine zerstörerische Kraft, die, wenn sie das Ziel der Zerstörung nicht erreicht, sich gegen den Zerstörer selbst wenden kann.

Luther hat die Zerstörung der Papstkirche nicht erreicht. Im Gegenteil, schon zu seinen Lebzeiten erstarkte die römische Kirche, während in den evangelischen Gebieten die Verfallserscheinungen des kirchlichen Lebens immer deutlicher zutage traten. Unter dem Druck schwerer Enttäuschungen und Anfechtungen blieb ihm der Glaube an Christus unvermindert eine lebendige Kraft, die ihn vor der Verzweiflung bewahrte.

Es zeigt die Größe dieses Mannes, dass er immer die Fähigkeit behielt, sehr nüchterne Urteile über sich selbst zu fällen. Dieses Wissen über sich selbst verbindet sich mit einem festen Glauben, so dass er z. B. im Jahre 1530 an Hieronimus Weller schreiben kann:

"Ich gestehe, Tod und Hölle verdient zu haben; aber was dann? Wirst du derhalb auf ewig verdammt werden? Keineswegs. Ich kenne einen, der für mich gelitten und genug getan hat, er heißt Christus, Gottes Sohn. Wo der bleibt, da werde ich auch stehen." [94]

72 EA 28, 44.

73 M. Luther, Ausgew. W., a. a. 0., S. 140/41.

74 M. Luthers Werke, hrsg. von Bumwald-Kawerau, Bd. 8, S. 325.

75 WAlW 31, I, S. 226 und EA 40, 284.

76 EA 40, 284.

77 EA 24, 8.

78 WA/W I, 5.65.

79 WA/W I, 5.65.

80 Luthers Werke, hrsg. von Buchwald-Kawerau, Bd. 1, S. 101.

81 EA 26, 155-208-220.

82 EA 30, 9.

83 Köstlin-Kawerau, M. Luther und seine Schriften, 5. Aufl., 2. Bd., Berlin 1903, S. 390.

84 EA 26,184.

85 EA 53, 91f.

86 E. Kroker, Luthers Tischreden, Leipzig 1903, 5. 115.

87 EA 26, 200.

88 EA 24, 290.

89 EA 59,284/5.

90 EA 4, 248.

91 EA 19, 224.

92 EA 19,370.

93 EA 19,388/9.

94 M. Luthers Briefwechsel, bearbeitet von G. Kawerau, Leipzig 1910, 8. Bd., S. 159 f


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Last update: 05 Juni 2009 | Impressum—Imprint