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IV.8. Enttäuschung und Resignation

Will man sich ein Bild machen, welche Erwartungen Luther mit der reformatorischen Verkündigung des Evangeliums verband, wird man auf eine seiner grundlegenden reformatorischen Schriften zurückgreifen können. Im Jahre 1520 verfasste er die dem Papst Leo X. gewidmete Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen", in der er frei von Polemik und eindrucksvoll die Auswirkungen des rechten Glaubens auf das Christenleben beschreibt.

Der Glaube an die gerechtmachende Kraft Christi, so meinte Luther damals, kann das Leben des Menschen von Grund auf verwandeln, so dass "ein Christenmensch durch den Glauben so hoch erhaben wird über alle Dinge, dass er aller ein Herr wird geistlich." [111]

Am Ende seiner Schrift weist er die Christen dann darauf hin, auf welche Weise ihnen solche Macht verliehen werden kann:

"Aus Christo fließen sie (sc. die Güter Gottes) in uns, der sich unser hat angenommen in seinem Leben, als wäre er das gewesen, was wir sind." [112]

Diese dem Christen nun innewohnende Kraft Christi bewirkt, dass der Glaubende überhaupt nicht mehr auf den Gedanken kommen kann, sich in frommen Werken um seine Seligkeit zu bemühen. Denn er ist nicht imstande, der rettenden Gnade Christi irgendetwas hinzuzufügen.

Aber nun wohnt ein heiliger Drang in ihm, so wie Adam vor seinem Fall "eitel freie Werke" zu tun, "um keines Dinges willen getan, denn allein Gott zu gefallen, und nicht, um Frömmigkeit zu erlangen ..." [113]

"Gute fromme Werke machen nimmermehr einen guten frommen Mann, sondern ein guter frommer Mann macht gute fromme Werke." [144]

Aus neuem Geist heraus folgt Umwandlung und Reinigung des ganzen Menschen:

"Denn dieweil die Seele durch den Glauben rein ist und Gott liebt, wollte sie gern, dass auch also alle Dinge rein wären, zuvor ihr eigener Leib, und jedermann mit ihr Gott liebe und lobe." [115]

Der Christ ist nun in den Stand eines königlichen Priestertums versetzt, in dem es zwischen Priestern und Laien keinen wesentlichen Unterschied mehr geben kann [116]. Diese Wesensbeschreibung des Christenstandes ist deutlich von der paulinischen Gewissheit getragen, dass der Mensch in Christo eine völlig neue Schöpfung geworden sei (2. Korinther 5, 17). Während aber Paulus die leibliche Existenz einer Heiligung nur für fähig hält, indem er sie in der Gemeinschaft der Leiden Christi zunehmend verunwirklicht (Philipper 3, 10; Römer 8, 17), hält Luther es für möglich, den ganzen Menschen in den Heiligungsprozess einzubeziehen.

In der ersten Zeit der Erfolge hoffte Luther offenbar innerhalb des erneuerten Christenstandes auf eine Geistbegabung, in der die endzeitlichen Hoffnungen der ersten Christen wieder zu neuem Leben erwachen würden. Unter dem Einfluss der paulinischen Theologie können ihm schon die kirchlichen Ordnungen der auslaufenden Weltzeit gewichtslos werden, so dass er sich mit der Verkündigung des allgemeinen Priestertums bereits im Jahre 1520 von dem hierarchischen Gebilde der römischen Kirche grundsätzlich lossagen konnte. Dabei lässt sich schwer entscheiden, ob er den Papst bewusst brüskieren wollte, wenn er die Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" in einem demütigen Begleitschreiben dem "Allerheiligsten in Gott Vater Leo X." widmete [117], oder ob er es damals noch nicht übersah, welche Folgen es haben musste, wenn er die Hierarchie der römischen Kirche mit leichter Hand zum alten Eisen zu werfen versuchte.

Die in dieser Schrift entwickelten Vorstellungen, die zwangsläufig zu einem Bruch mit der römischen Kirche führen mussten, nehmen dann sehr bald festumrissene Gestalt an.

Im Jahre 1523 setzt er sich in einer Schrift für Recht und Macht einer christlichen Gemeinde ein, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen. Den Bischöfen, Gelehrten, Konzilien und selbstverständlich auch dem Papst spricht er jegliche Lehrautorität ab. "Denn", so führt er im folgenden aus, "Christus setzt gleich das Widerspiel, nimmt den Bischöfen, Gelehrten und Konzilien, beide, Recht und Macht zu urteilen die Lehre, und gibt sie jedermann, und allen Christen insgemein, da er spricht Johannes am 10. (V. 4): Meine Schaf kennen meine Stimme. Item (V. 5): Meine Schaf folgen den Fremden nicht, sondern fliehen von ihnen; denn sie kennen nicht der Fremden Stimm. Item (V. 8): Wie viel ihr kommen sind, das sind Diebe und Mörder; aber die Schaf höreten sie nicht.

Hier siehest du je klar weß das Recht ist, zu urteilen die Lehre. Bischof, Papst, Gelehrten, und jedermann hat Macht zu lehren, aber die Schaf sollen urteilen, ob sie Christi Stimm lehren, oder der Fremden Stimm." [118]

Lehrautorität also soll von nun an allein die Heilige Schrift sein, die von einer geistbegnadeten Christenheit mit Sicherheit recht gedeutet werden kann. Aus dieser Gewissheit heraus weist er dann auch im selben Jahr die Herren des Deutschen Ordens darauf hin, dass die Schrift älter und mehr sei, "denn alle Concilia und Väter. Item, die Engel haltens alle mit Gott, und mit der Schrift. Item, so ist der Brauch von Adam her gewesen. Auch älter, denn der Brauch durch die Päpste aufkommen." [119]

Zu dieser Zeit hatte Luther schon erfahren müssen, welche Folgerungen aus dieser neuen Lehre gezogen werden konnten. Schon 1522 hatten die Bilderstürmer und Schwärmer von sich reden gemacht. Luther selbst hatte sein Asyl auf der Wartburg vorzeitig verlassen müssen, um der Wittenberger Schwarmgeisterei ein Ende zu machen. Rückblickend lässt es sich als ein Zeichen kommenden Unheils verstehen, wenn der getreue Mitstreiter Luthers zur Zeit der Leipziger Disputation, Andreas Karlstadt, sich nun in Abwesenheit Luthers auf den heiligen Geist berufen hatte, um im Gehorsam gegen die Schrift radikale Reformen des gottesdienstlichen Lebens durchzuführen.

Auch andere Sturmzeichen waren eigentlich nicht zu übersehen. Die Predigten eines Thomas Münzer aus Zwickau fanden bei der Masse der Unzufriedenen überall im Lande offene Ohren. Auch er berief sich auf das Evangelium und forderte in seinen Predigten radikale Sozialreformen.

Aber Luther hat offenbar die Gefahren, die durch seine Lehre von der Freiheit eines Christenmenschen heraufbeschworen wurden, nicht gesehen. Dank seiner Autorität konnte er die Schwärmer in Wittenberg bald zur Ruhe bringen, und das allein scheint ihn in seinem Sendungsbewusstsein bestärkt zu haben.

So kann er zu dieser Zeit in dem Bemühen um eine gute reformatorische Ordnung auf das Wort des Paulus hinweisen: "Wenn auch wir selbst, oder ein Engel vom Himmel euch anders predigt, denn wir euch gepredigt haben, so sei es vermaledeiet" (Galater I, 8).

"Also", fährt er dann fort, "sage ich auch allhie: du musst also fest und gewiss auf Gottes Wort in dieser Sache und allen anderen dich bauen, dass, ob ich auch selber zum Narren würde, da Gott für sei, und widerriefe und verleugnete meine Lehre, dass du darum nicht davon tretest, sondern sprächst: wenn auch Luther selbst, oder ein Engel vom Himmel anders lehret, so sei es vermaledeiet. Denn du musst nicht Luthers, sondern Christus Schüler sein." [120]

Trotz aller bescheidenen Zurücknahme seiner Person weiß Luther die Sache der Wahrheit eben doch mit seiner Person verknüpft. Wer in Wahrheit vom Geiste Gottes erfüllt ist, kann gar nicht anders, als sich seiner Lehre anschließen. So ist er auch noch im Jahre 1524 davon überzeugt, dass eine Kirche in der Freiheit des Geistes den römischen Irrtum und das zunehmende Sektenunwesen in naher Zukunft besiegen wird. So kann er dem Kurfürsten Friedrich und dem Herzog Johannes zu Sachsen den Rat geben, nichts gegen sektiererische Bewegungen zu unternehmen.

"Man lasse sie nur getrost und frisch predigen, was sie könnten, und wider wen sie wollen; denn wie ich gesagt habe, es müssen Sekten sein (1. Korinther 11, 19), und das Wort Gottes muss zu Felde liegen und kämpfen. - Man lasse die Geister aufeinanderplatzen und treffen. Werden indes etliche verführt, wohlan, so gehts nach rechtem Kriegslauf; wo ein Streit und Schlacht ist, da müssen etliche fallen und wund werden; wer aber redlich ficht, wird gekrönet werden." [121] In seiner Predigt am Ostermontag des Jahres 1525 bemerkt er, dass das Evangelium bisweilen auf die fällt, die es nicht annehmen. "Diesen wollen wir gar nichts gepredigt haben; denn es ist an ihnen verloren. - Wer eine Sau sein will, der wisse, was einer Sau zugehöret. Ich wollte gerne, dass ich dieselbigen könnte aus der Predigt ausschließen, dass sie es nimmer höreten, und weit davon wären; denn sie können nichts mehr, denn dass sie des Evangelii missbrauchen zu Schaden, und uns nur Schande auflegen, dass um ihretwillen Gottes Wort muss Unehre und Schmach leiden. Hinaus mit den wüsten Säuen." [122]

In der großen Katastrophe des Bauernkrieges musste Luther dann erfahren, wie sehr er sich in seinen Erwartungen getäuscht hatte. Die Hoffnung auf eine im evangelischen Glauben geläuterte Christenheit hatte sich als ein unerfüllbares Wunschbild erwiesen.

Zu Unrecht ist Luther immer wieder vorgeworfen worden, er habe der evangelischen Sache durch sein Verhalten während des Bauernkrieges schweren Schaden zugefügt, indem er sich auf die Seite der Herren stellte und die aufständischen Bauern totschlagen hieß. Er war sicher der ehrlichen Überzeugung, sich gegen den Willen Christi zu stellen, hätte er auch nur in einem Punkt anders gehandelt.

Aus seiner Schrift "Ermahnung zum Frieden ... " geht klar hervor, dass er sehr wohl um die bedrückte und auf die Dauer unhaltbare Lage der Bauern wusste. Den Fürsten wird in harten Worten ihr Unrecht vorgehalten. Aber er wäre seinem Glauben untreu geworden, wenn er nicht auf das schärfste ein gewaltsames Vorgehen der Bauern verurteilt hätte. "Denn", so vermahnt er sie, "Christen die streiten nicht für sich selbst mit dem Schwert, noch mit Büchsen, sondern mit dem Kreuz und Leiden; gleichwie ihrer Herzog, Christus, nicht das Schwert führet, sondern am Kreuz hanget." [123]

Auch in seiner Schrift "Wider die räuberischen Rotten der Bauern" weiß er sich an das Wort der Schrift gebunden. Aufruhr gegen die Obrigkeit ist Empörung gegen Gott. Denn nach dem Apostelzeugnis ist man jeder Obrigkeit, ob gerecht oder ungerecht, strikten Gehorsam schuldig (Römer 13, 1f.; 1. Petrus 2, l8f.). Verächter dieses Gebotes haben das Leben verwirkt. In Sachen Aufruhr gegen eine von Gott gesetzte Autorität glich Luther nun einmal einem gebrannten Kinde, das nur so eben mit dem Leben davongekommen war. Das Ansinnen der Bauern, die Rebellion gegen eine von Gott gesetzte Ordnungsmacht zu unterstützen, musste ihn notwendigerweise zum Gegner der Rebellen machen.

Wenn man ein Versagen Luthers in seiner folgenschweren Stellungnahme zum Bauernkrieg glaubt feststellen zu können, wird man berücksichtigen müssen, dass er sich an das Schriftzeugnis gebunden wusste.

Im Vertrauen auf das Wort der Bibel, insbesondere auf das des Paulus glaubte er zudem, dass der Mensch kraft des Evangeliums von Grund auf verwandelt werden könnte. Wer aus dem Geist Christi lebte, war imstande, allen eigensüchtigen Interessen und Wünschen den Abschied zu geben. Auch schwerste Belastung konnte dann unter Verzicht auf irdisches Wohlergehen willig ertragen werden. Diese Erwartung stand hinter seiner Ermahnung zum Frieden, die er den Bauern zugehen ließ.

Der Bauernkrieg brachte ihn nun zu der bitteren Erkenntnis, dass er sich getäuscht hatte. Das Zeugnis der Bibel blieb ihm unantastbare Wahrheit. Er hatte den Menschen die evangelische Wahrheit angeboten, aber der Mensch hatte sie in seiner, wie er meinte, abgrundtiefen Bosheit für seine eigenen selbstsüchtigen Zwecke missbraucht.

Er hatte unmissverständlich von der Freiheit eines Christenmenschen in der Bindung an Christus gesprochen. Der Mensch aber, der sich seiner Verkündigung anschloss, fasste diese Freiheit offensichtlich nur als eine Befreiung von drückenden Bindungen auf. Dabei ahnte er nicht, dass der Mensch seiner Zeit ihn tiefer verstand, als er sich jemals selber verstehen konnte. Ein besonders geschärftes Ohr hatte man sicher für seine Polemik, und wer seinen polemischen Schriften begeistert zustimmte, musste unmittelbar spüren, dass sich sein Glaube mit der Kraft des Hasses verbunden hatte. Es war nicht zu übersehen, dass er aus dieser Kraft heraus die wuchtigsten Schläge gegen die römische Kirche zu führen vermochte, um sie bis auf den Grund zu zerstören. Wenn nun die Macht der Kirche, die ihre Autorität von Gott herleitete, so sichtbar durch den Kampf Luthers verfiel und ihre Glaubwürdigkeit verlor, dann mussten auch, so konnte man schließen, die Obrigkeitsmächte in gleicher Weise fallen.

Luther hat nicht gesehen, dass er mit seinem Kampf gegen die römische Kirche auch das gesamte Ordnungsgefüge seiner Zeit ins Wanken brachte. Er aber glaubte sich im Anbruch der letzten Zeit nur zum Sturz einer antichristlichen Kirche gesandt, während ihm die Macht der Obrigkeit auch weiterhin unter dem Schutz göttlichen Gebotes unantastbar blieb.

So ist es verständlich, dass Luthers Verhalten im Bauernkrieg gerade bei denen äußerstes Befremden auslöste, die in ihm ihren gottgesandten Befreier gesehen hatten. Die große Begeisterung der ersten Jahre machte nun einer Enttäuschung Platz. Man hielt ihn für einen charakterlosen Parteigänger der Mächtigen und lehnte ihn ab. In diesen Jahren war er seines Lebens nicht sicher, denn noch im Jahre 1530 musste er darauf verzichten, seinen kranken Vater in Mansfeld zu besuchen. Er wäre gern gekommen, so schreibt er an den Vater, aber gute Freunde haben es ihm widerraten und ausgeredet, "und auch ich selbst denken muss", so fährt er fort, "dass ich nicht auf Gottes Versuchen in die Fahr mich wagte; denn Ihr wisset, wie mir Herren und Bauren gunstig sind." [124]

Die misslichen Erfahrungen, die Luther während des Bauernkrieges machen musste, konnten ihn keineswegs in seinem Sendungsbewusstsein beirren, obwohl das Fehlen der römischen Ordnungsrnacht in den evangelisch gewordenen Gebieten sich auf die Moral des Volkes ungünstig auszuwirken begann.

Luther sah diese Entwicklung, schon im Jahre 1529 stellt er fest, "dass jetzund unsere Evangelischen siebenmal ärger werden, denn sie zuvor gewesen. Denn nachdem wir das Evangelium gelernt haben, so stehlen, lügen, trügen, fressen und saufen wir, und treiben allerlei Laster. Da ein Teufel ist bei uns ausgetrieben worden, sind ihr nu sieben ärgere wieder in uns gefahren; wie das jetzt an Fürsten, Herrn, Edelleuten, Bürgern und Baurn zu sehen, wie sie jetzt tun, und sich ohne Scheu, ungeacht Gott und seine Drohung, verhalten." [125]

Im Jahre 1532 klagt er über die Verachtung, mit der man in evangelischen Gebieten der Kirche begegnet. Er weist darauf hin, dass nun Christus gepredigt wird, "wie ihn das Evangelium abmalet. Aber Bürger, Bauern und die vom Adel treten ihre Pfarrer und Prediger mit Füßen, die Fürsten und großen Herren dieser Welt verfolgen das Evangelium. Was will daraus werden? - Vor Zeiten konnte man Klöster und Kirchen bauen, auch mit allzu überflüssigen Kosten. Jetzt kann man einem Pfarrherrn nicht ein Loch im Dache zubauen, dass er trocken liegen könnte; ich will schweigen der großen Verachtung. Das wäre auch wohl weinenswert, dass man solche Verachtung sehen soll." [126]

Genau ein Jahr später äußert er sich in ähnlicher Weise. Die Welt wird seiner Meinung nach immer ärger und scheint ganz in der Hand des Teufels zu sein. "Wie man siehet, dass die Leute jetzund ruchloser, geiziger, unbarmherziger, unzüchtiger und ärger sind, denn zuvor unter dem Papsttum." [127]

Luther hat nicht daran gezweifelt, dass dieser Verfall das nahe Ende der Weltzeit ankündigte. Das helle Licht des Evangeliums ließ die dunklen Kräfte des Bösen sichtbarer heraustreten. Der Satan wusste eben, dass er nicht mehr viel Zeit hatte und entfaltete daher seine ganze Macht.

Die Erwartung des nahen Endes aber hinderte Luther nicht, der Zersetzung im eigenen Lager energisch entgegenzutreten. Im Jahre 1529 schuf Luther im Kleinen Katechismus eine kurzgefasste Glaubenslehre, die in damals allgemein verständlichen Sätzen die evangelische Lehre prägnant zusammenfasste. Die sächsische Kirchenordnung, die 1528 aus einer Visitationsordnung für Kursachsen hervorging, wurde Vorbild für eine Organisation evangelischer Landeskirchen. Mit der Bildung von Landeskirchen, in denen dem Landesherrn die Befugnisse eines Bischofs übertragen wurden, wurde es deutlich, dass die großen Hoffnungen aus der Blütezeit der Reformation keine Erfüllung finden konnten, denn die Landeskirche stellte das Gegenbild zu der ursprünglich von Luther erhofften freien Gemeindekirche dar.

Mit Recht hat Luther von den Fürsten seiner Zeit keine sehr günstige Meinung gehabt. 1523 weiß er von ihnen wenig Schmeichelhaftes zu sagen: "Sie sind gemeiniglich die größten Narren oder die ärgsten Buben auf Erden: - Denn es sind Gottes Stockmeister und Henker, und sein göttlicher Zorn gebraucht ihr, zu strafen die Bösen und äußerlichen Frieden zu halten." [128]

Wie bedenklich mag es Luther gestimmt haben, wenn er den Mächtigen seiner Zeit, die er selbst so vernichtend charakterisiert hatte, als geistliche Leiter evangelischer Landeskirchen anerkennen musste. Gewiss, Luther sah in dieser Regelung eine Notordnung, um die böse Zeit vor dem nahenden Ende zu überbrücken. Aber es zeigte sich, dass die von ihm reformierte Kirche nicht in der Lage war, die Landeskirchen mit einer eigenständigen geistlichen Leitung zu versehen. Im Jahre 1542 konnte Luther zwar Nikolaus von Amsdorf zum Bischof von Naumburg weihen, aber es war ein Erfolg, den er dem gewaltsamen Eingreifen seines Kurfürsten zu verdanken hatte. Fünf Jahre später wurde von Amsdorf wieder aus Naumburg vertrieben. Luthers Wort hatte zwar bei den Mächtigen einiges Gewicht. Aber er unterstand der bischöflichen Gewalt seines Kurfürsten, den er in einem Brief an die Visitatoren einmal als "Notbischof" bezeichnet, "weil sonst kein Bischof uns helfen will." [129]

Mit dem Einmünden der Reformationsbewegung in die sich immer mehr festigende Form einer Staatskirche ließ sich auch die evangelische Forderung nicht mehr halten, in Glaubensfragen das Gewissen frei zu lassen. Luther selbst sah sich genötigt, dem Glauben an die Gewissensfreiheit, der seinen Kampf gegen die römische Kirche im Anfang beflügelt hatte, den Abschied zu geben.

In seiner Vorrede zum Kleinen Katechismus hat Luther der Freiheit in Glaubensdingen die ersten Schranken gesetzt. Man glaubt ihm abspüren zu können, wie schwer es ihm fiel, auf dieses von ihm selber hart erkämpfte Recht zu verzichten. Eine Unsicherheit in seinen Ausführungen ist unverkennbar.

Anfangs klagt er darüber, dass das Volk, wie er bei einer Visitationsreise festgestellt habe, in Unkenntnis des Glaubens dahinlebe "wie das liebe Vieh und unvernünftige Säue; und nu das Evangelium kommen ist, dennoch fein gelernet haben, aller Freiheit meisterlich zu missbrauchen." [130]

Für die große Unwissenheit macht er die römische Kirche verantwortlich, vergisst aber dabei, dass die Lehrautorität dieser Kirche während der letzten acht Jahre in Kursachsen völlig gewichtslos geworden war. Für den Missbrauch der evangelischen Freiheit war die römische Kirche jedenfalls nicht verantwortlich zu machen, und Luther muss denn auch ein wenig später zugeben, dass das kirchliche Leben in vorreformatorischer Zeit nicht ohne Zucht gewesen war. Denn, so bekennt er, seitdem "die Tyrannei des Papstes ab ist, so wollen sie nicht mehr zum Sakrament gehen und verachtens". [131]

Er betont in seiner Vorrede wiederholt die Gewissensfreiheit, die einen Glaubenszwang niemals zulassen könne. Die katastrophalen Verhältnisse in einem ungeordneten Kirchenwesen aber nötigten ihn offenbar, dieser Freiheit eine Grenze zu setzen, indem er sie der Jugend und dem einfältigen Volk abspricht. Junge und einfältige Leute hält er, so scheint es, nicht für fähig, den erneuernden Geist im Glauben an Christus in Freiheit zu empfangen, sondern befiehlt, sie notfalls zwangsweise im Katechismus zu unterrichten.

"Welche es nicht lernen wollen, dass man denselbigen sage, wie sie Christum verleugnen, und keine Christen sind, sollen auch nicht zum Sakrament gelassen werden, kein Kind aus der Taufe heben, auch kein Stück der christlichen Freiheit brauchen, sondern schlecht dem Papst und seinen Offizialn, dazu dem Teufel selbst heimgeweiset sein. Dazu sollen ihnen die Eltern und Hausherrn Essen und Trinken versagen, und ihnen anzeigen, dass solche rohe Leute der Fürst aus dem Lande jagen wolle usw. Denn wiewohl man niemand zwingen kann und soll zum Glauben, so soll man doch den Haufen dahin halten und treiben, dass sie wissen, was Recht und Unrecht ist bei denen, bei welchen sie wohnen, sich nähren und leben wollen; denn wer in einer Stadt wohnen will, der soll das Stadtrecht wissen und halten, dass er genießen will, Gott gebe, er gläube oder sei im Herzen ein Schalk oder Bube." [132]

Man fragt sich, ob bei diesen rigorosen Anweisungen überhaupt noch Raum für eine Freiheit der Glaubensentscheidung im Sinne Martin Luthers bleibt, ob es überhaupt möglich ist, den Menschen in eine Freiheit zu entlassen, über die er zuvor zwangsweise unterrichtet werden musste.

Im Blick auf die damals üblichen Erziehungsmethoden ließe sich der Vorschlag schon verstehen, die Kinder im Glaubensunterricht einer harten Lehrzucht zu unterwerfen. Aber Luther hat ja auch, wahrscheinlich sogar in erster Linie, an das "einfältige Volk" gedacht, wenn er derartige Maßnahmen empfiehlt. Sie sind es ja letztlich, die vor die Wahl gestellt werden, entweder den lutherischen Glauben anzunehmen oder mit der Landesverweisung ihre Existenz zu verlieren. Dieser Druck musste weitreichende Folgen haben. Denn im Zeichen der Gewissensfreiheit befürwortete Luther eine Knechtung des Gewissens, aus der ein evangelischer Christ hervorgehen konnte, der zwar alle kirchlichen Rechte besaß, aber dem Glauben gleichgültig oder mit Verachtung gegenüberstand. Wenn er nun in seinem Herzen "für sich ein Schalk oder Bube" geworden war, dann wird man doch wohl denen die Verantwortung dafür zuschieben müssen, die ihn in seiner Glaubensentscheidung zu erpressen versuchten.

Luther hat deutlich gespürt, dass sein Rückzug in eine Obrigkeitskirche den Bankrott seines Kampfes gegen die römische Kirche aufdecken musste. Denn in dem Augenblick, in dem er den Menschen die Möglichkeit eigener Glaubensentscheidung nahm, wurde ihm die Grundlage entzogen, die ihm den Kampf gegen die Papstkirche ermöglicht hatte.

Zeit seines Lebens blieb er daher auch Anwalt der Gewissensfreiheit. Aber das war ihm nur noch eine Rolle, die er nicht durchhalten konnte, sowie er sich vor Gewissensentscheidungen gestellt sah, die im Widerspruch zu seiner Lehre standen und zu einer Verkündigung ohne Billigung und Auftrag der evangelischen Kirche führten.

In den Jahren vor dem Bauernkrieg schien es ihm noch eine Selbstverständlichkeit, dass man Sekten gewähren lassen müsse (siehe Seite 118). In seiner Auslegung des 82. Psalmes vom Jahre 1530 aber ist von einer derartigen Freizügigkeit nicht mehr die Rede. Er gebietet seinen Predigern, über nebensächliche Zeremonien nicht auf der Kan- zel zu streiten, und fährt dann fort:

"Was ich sage von öffentlichen Predigten, das sage ich vielmehr von Winkelpredigten und heimlichen Zeremonien, denn dieselben sind aller Dinge nicht zu leiden; sonst mag einer bei sich selbst lesen und gläuben, was er will. Will er nicht Gott hören, so höre er den Teufel. Aber gewisse Artikel der Schrift sind, die soll man beide, öffentlich und auch in Häusern dem Gesinde lesen und lehren. Mit allem diesem ist niemand zum Glauben gezwungen, sondern der Gemeinde ist vor den störrigen Köpfen Friede geschafft, und den Winkelpredigern ihre Büberei gesteuert, die unberufen und ungesandt hin und wieder in die Häuser schleichen, und ihr Gift auslassen, ehe es Pfarrherr und Oberkeit erfahren. - Und ein Bürger ist schuldig, wo solcher Winkelschleicher einer zu ihm kommt, ehe denn er denselbigen hört oder lehren lässt, dass ers seiner Oberkeit ansage, und auch dem Pfarrherrn, des Pfarrkind er ist. Tut er das nicht, so soll er wissen, dass er, als ein ungehorsamer seiner Oberkeit, wider seinen Eid tut, und als ein Verächter seines Pfarrherrn (dem er Ehre schuldig ist) wider Gott handelt." [133]

Mit diesen Anweisungen stellte Luther die evangelische Kirche unter den Polizeischutz der Obrigkeit. Die seelsorgerliche Begründung aber, mit der Luther ein Denunziantentum innerhalb der Kirche zu rechtfertigen versucht, klingt um so weniger überzeugend, als er wenige Sätze zuvor den Papisten gegenüber ein anderes Verfahren empfiehlt. In konfessionell gemischten Gebieten, in denen also die römische Kirche ihren Einfluss noch nicht verloren hatte, widerrät er seinen Predigern, sich in konfessionelle Streitigkeiten verwickeln zu lassen. Auch hier soll man notfalls die Obrigkeit anrufen. In diesem Fall aber wird, den Machtverhältnissen entsprechend, der weltlichen Behörde nicht die Bestrafung widergöttlicher Lehrer, sondern die Schlichtung eines konfessionellen Glaubensstreites abverlangt [134].

Luther lässt jedoch keinen Zweifel daran, was einen Winkelprediger, zu denen er Münzer und Karlstadt rechnet, zu erwarten hat, wenn die Obrigkeit ihr Strafamt der evangelischen Partei zur Verfügung stellt:

"So gedenk ein jeglicher: Will er predigen oder lehren, so beweise er den Beruf und Befehl, der ihn dazu treibt und zwingt, oder er schweige stille. Will er nicht, so befehl die Oberkeit solchen Buben dem rechten Meister, der Meister Hans heißet." 135 (Anm.: Meister Hans = Henker.)

Im selben Jahr verkündigt er von der Kanzel zu Wittenberg, dass auch eine schriftgemäße Verkündigung, die nicht im Auftrage der Kirche erfolgt, ein todeswürdiges Verbrechen ist:

"Denn die anderen, so ohn Amt und Befehl herfahren, sind nicht so gut, dass sie falsche Propheten heißen; sondern Landstreicher und Buben, die man sollt Meister Hansen befehlen und nicht zu leiden sind (ob sie gleich recht lehreten), wo sie andern ins Amt und Befehl greifen wollen, wider der Oberkeit Ordnung." [136]

Wenn Luther mit diesen Anweisungen der Obrigkeit zum Schutze der evangelischen Lehre so weitreichende Vollmachten gibt, dann kann man schon allein daraus auf eine revolutionäre Kräfteverschiebung schließen, die durch seinen Protest gegen die römische Kirche ausgelöst wurde.

In seiner Schrift "An den Adel deutscher Nation..." erklärt er das geistliche Recht für eine erdichtete römische Vermessenheit und behauptet unter Berufung auf ein Wort des Paulus, dass "eine jegliche Seele (ich halt des Papstes auch) soll unteran sein der Oberkeit." [137]

Mit dieser Behauptung stellte Luther ein bisher unbestrittenes Privileg der römischen Kirche in Frage und bereitete so einer neuen Gesellschaftsordnung den Weg.

Ein Geistlicher, ob Priester, Bischof oder Papst, sollte, so forderte Luther, von nun an wie jeder andere der irdischen Gerichtsbarkeit unterstehen, wenn er sich gegen Gesetze verging, die eine weltliche Obrigkeit zum Schutze des Gemeinwesens erlassen hatte. Mit dieser Forderung aber wurde dem modernen Rechtsdenken der Weg bereitet, nach dem jeder Mensch in gleicher Weise den Gesetzen eines Staatswesens unterworfen ist und sich nicht mehr durch Berufung auf eine von Gott geordnete Heiligkeit seines Standes der weltlichen Gerichtsbarkeit entziehen kann. Die Aufwertung weltlicher Macht richtete sich eindeutig gegen das Machtstreben der römischen Kirche, die zwar weltliche Herrschaft für sich beanspruchte, aber in ihrer Berufung auf das geistliche Recht eine im Grunde auch für sie verbindliche weltliche Rechtsordnung zu umgehen wusste [138].

Luther konnte damals nicht ahnen, dass er die evangelische Kirche der Obrigkeit auslieferte, als er am 10. Dezember 1520 die Bücher des kanonischen Rechts mitsamt der Bannandrohungsbulle vor dem Elsterntor ins Feuer warf. Im Bewusstsein unantastbarer Stärke evangelischer Gläubigkeit meinte er, auf einen rechtlichen Schutz christlicher Glaubensätze verzichten zu können. So sagt er noch in der Pfingstdienstagspredigt der Kirchenpostille, die er sehr wahrscheinlich in der Zeit vor dem Bauernkrieg gehalten hat, dass den Schafen und nicht den Predigern das Urteil zustehe, was dem Evangelium gemäß sei:

"Darum habt ihr (sc. die Schafe) Gewalt und Macht, zu urteilen alles was gepredigt wird, das und kein anders. Denn wenn wir die Gewalt nicht hätten, so hätte uns Christus vergeblich gesagt im Matthäo 7, 15: 'Hütet euch vor den falschen Propheten, die zu euch kommen in Schafskleidern, inwendig aber sind sie reißende Wölfe'. Wir könnten uns aber nicht hüten, wenn wir nicht zu urteilen Macht hätten und müssten alles annehmen, was sie sagten und predigten." [139]

In der Vorrede zum Sommerteil der Kirchenpostille vom Jahre 1527, in der diese Predigt enthalten ist, stellt er dann schon mit Bitterkeit fest, dass in der Beurteilung der Schrift "leider viele schon allzu gelehrt worden sind, und weiß nicht, wie viel Fuder Most sie bereits dem heiligen Geist haben ausgesoffen, bis schier alle Lande voll Rotten sind, mit welchen Gott viel mehr muss zu schaffen haben, dass er sie ungelehret mache, denn mit allen anderen, die er soll gelehrt machen." [140]

Im Jahre 1530 aber hat Luther schon zur Genüge erfahren, welche Folgen es nicht nur für die Kirche, sondern auch für das soziale Gefüge seiner Zeit haben konnte, wenn man dem einzelnen Christenmenschen das Recht gab, über Lehre zu urteilen. Nun warnt er in einer Predigt über Matthäus 7, 15 sehr eindringlich vor den falschen Propheten:

"...und traue nur keinem Menschen, der jetzt mit mir ist, als der heut mit mir, aber wohl morgen wider mich predigen kann. Und darf sich hier niemand sicher dünken lassen, als der dieser Vermahnung nicht bedürfe. Denn es ist eine so gefährliche, listige Anfechtung, dass auch die Allergeistlichsten genug damit zu schaffen haben, dass sie nicht betrogen werden. Der andere Haufe aber, die sicher und ohne Sorge sind, können sich gar nicht erwehren, dass sie nicht verführet werden. Darum setzet er nicht umsonst das Wort: ,Sehet euch vor'." [141]

In den folgenden Jahren hat Luther die Obrigkeit nicht mehr zum Schutze des kirchlichen Lehramtes aufgerufen. Offenbar hat er sehr bald erkannt, welcher Entwicklung er Vorschub leistete, wenn er das Lehramt der Kirche notgedrungen dem Schutze der Obrigkeit empfahl. Schon im Jahre 1530, also zu einer Zeit, da er sehr energisch das Eingreifen der Obrigkeit forderte, sagt er in seiner Vorrede zur Auslegung des 82. Psalmes voll dunkler Ahnungen, dass nunmehr die geistliche Tyrannei anscheinend durch eine selbstherrliche Obrigkeit abgelöst sei, die unbequeme Wahrheiten evangelischer Verkündigung gern unterdrücken wolle. [142]

Diese Befürchtung erwies sich sehr bald als berechtigt. Denn es entsprach nun einmal dem menschlichen Machtstreben, die Schutzbedürftigkeit des jungen Kirchengebildes den eigenen Interessen dienstbar zu machen, indem man die Kirche auch in ihren geistlichen Belangen einer staatlichen Vormundschaft unterstellte.

Luther hat diese Entwicklung mit Resignation zur Kenntnis genommen. 1538 sagt er in einer Auslegung von Johannes 2: "Ihr werdet sehen, dass der Teufel wieder mengen wird wie denn der Papst zuvor das geistliche Schwert ins leibliche Schwert auch gemenget hat (Anm. von Aurifaber, der die lutherische Auslegung von Johannes 1 und 2 zum ersten Mal herausgab: "Wahrhaftige Prophezei Lutheri"). Jetzt kehret sich das Blatt um. (Anm. von Aurifaber: "Nach Luthers Tode gehet solchs erst in vollem Schwange".)

"Denn man macht aus dem Faustamt ein mündlich Amt, und wollen die weltlichen Herrn das geistliche Regiment führen, und den Predigtstuhl und Kirchen regieren, dass ich predigen soll, was der Fürste gerne höret." [143]

Resignation hat dann auch die letzten Lebensjahre Martin Luthers überschattet. Er hat es nicht verhindern können, dass sein Bemühen um eine Erneuerung der Kirche in der Abhängigkeit der Fürsten auf die Ebene politischer Machtkämpfe geriet, die seine Lebensarbeit in den vorauszusehenden blutigen Auseinandersetzungen zu ersticken drohten.

Am bedrückendsten aber mag es ihm gewesen sein, dass er am Ende seines Lebens erleben musste, wie in Wittenberg selbst im Zeichen evangelischer Verkündigung Unordnung des kirchlichen Lebens und Sittenlosigkeit der Evangelischen immer mehr um sich griffen.

In seinem letzten Lebensjahr verließ er angewidert die Stadt der Reformation mit dem Entschluss, nicht wieder zurückzukehren. Aus Leipzig schreibt er Ende 1545 an seine "Hausfrau":

"...Ich wollts gerne so machen, dass ich nicht durft wieder nach Wittenberg kommen. Mein Herz ist erkaltet, dass ich nicht gern mehr da bin, wollt auch, dass du verkauftest Garten und Hufe, Haus und Hof; so wollt ich M.G.H (meinem gnädigen Herrn) das große Haus wieder schenken, und wäre dein Bestes, dass du dich gen Zulsdorf setzest, weil ich noch lebe, und könnte dir mit dem Solde wohl helfen, das Gutlin zu bessern, denn ich hoffe, M.G.H. soll mir den Sold folgen lassen, zum wenigsten ein Jahr meins letzten Lebens. Nach meinem Tode werden dich die vier Elemente (Fakultäten) zu Wittenberg doch nicht wohl leiden, darum wäre es besser bei meinem Leben getan, was denn zutun sein will. Vielleicht wird Wittenberg, wie sichs anlässt mit seinem Regiment nicht S. Veits Tanz, noch Johannis Tanz, sondern den Bettlertanz oder Beizebubs Tanz kriegen; wie sie angefangen, die Frauen und Jungfrauen zu blößen hinten und vornen, und Niemand ist, der da strafe oder wehre, und wird Gottes Wort dazu gespottet. Nur weg aus dieser Sodoma. - Ich habe auf dem Lande mehr gehört, denn ich zu Wittenberg erfahre, darum ich der Stadt müde bin, und nicht wieder kommen will, da mir Gott zu helfe. Übermorgen werde ich gen Merseburg fahren. - Will also umherschweifen und ehe das Bettelbrot essen, ehe ich mein arm alte letzte Tage mit dem unordigen Wesen zu Wittenberg martern und verunreinigen will, mit Verlust meiner sauren teuren Arbeit." [144]

So hat Luther am Ende seines Lebens vor sehr bedrückenden Ergebnissen seiner reformatorischen Bemühungen gestanden. Die großen Hoffnungen, mit denen er seinen Kampf gegen die römische Kirche begonnen hatte, waren nicht in Erfüllung gegangen.

Die Verkündigung der Freiheit eines Christenmenschen hatte zwar zur Auflösung römischer Frömmigkeitsformen geführt, aber die erhoffte evangelische Gläubigkeit in freiwilliger Bindung an den Geist Jesu Christi erwies sich dann als eine Illusion. Anstatt der erhofften freien Gemeindekirche entstand so eine Kirche unter dem strengen Regiment der Obrigkeit, die ihr bischöfliches Amt keineswegs im evangelischen Geist wahrzunehmen verstand.

So musste es Luther von Jahr zu Jahr schwerer fallen, die durch ihn geschaffene Kirche als eine christliche Gemeinschaft der letzten Tage anzusehen, in der Christus seine Wiederkunft vorbereitete. Denn an einer Gemeinschaft des heiligen Geistes mussten ja nach dem Zeugnis der Schrift die satanischen Kräfte zuschanden werden. Aber bot nicht gerade das evangelische Lager mit seiner Schwäche und Zerrissenheit dem Satan günstige Ansatzpunkte für seine zerstörerische Kraft?

Die aus dieser bedrückenden Lage sich ergebenden Zweifel an seinem göttlichen Sendungsauftrag haben dann die furchtbaren Ängste vor dem Zorn Gottes wieder in den Vordergrund treten lassen. Der alternde Luther war ein müder, angefochtener Mann.

Aber auch in diesen für ihn so bitteren Jahren erwehrte er sich der archaischen Gottheit, indem er bis zuletzt die römische Kirche als Repräsentanz dieser Gottheit mit einer seiner Gerichtsangst entsprechenden Stärke des Hasses bekämpfte. Die römische Lehre blieb für ihn eine satanische Verfälschung des Evangeliums. Nach einer undatierten, aber zuverlässig überlieferten Tischrede klagte Luther einmal darüber, dass er bisweilen vor innerer Kälte und Unlust nicht beten könne. Er fährt dann fort: "Da stopfe ich meine Ohren zu und spreche: Ich weiß, Gott ist nicht weit von mir, darum muss ich schreien und ihn anrufen. Setzte mir dagegen die Undankbarkeit und das gottlose Wesen der Widersacher, des Papstes mit seinem Geschwürm und Gewürm usw., also dass ich erwarme und für Zorn und Hass brenne, und darnach sage: O Herr, geheiligt werde dein Name, zukomme dein Reich, dein Wille geschehe usw. Also erwarmet mein Gebet und wird hitzig." [145]

Diese doch recht bedenkliche Anreizung zur Gebetsfreude wird man als eine Notwehraktion Luthers verstehen müssen. Auf diese Weise konnte er den gefürchteten Zorn der archaischen Gottheit gleichsam auf die Instanz der römischen Kirche übertragen, der er selbst mit Zorn und Hass wirksam begegnen konnte.

Sein Glaube an Christus aber blieb von diesem bis zuletzt nicht lösbaren Konflikt unberührt.

Die letzten Predigten, die Luther kurz vor seinem Tode in Eisleben gehalten hat, zeugen davon. Er wusste zur Genüge um die bedenklichen Früchte der Reformation, die für die Zukunft der evangelischen Kirche nichts Gutes erwarten ließen. Und doch sind seine Predigten von einer schlichten Glaubenserwartung getragen, die von Polemik freibleibt. Es scheint so, als ob ihm am Ende seines Lebens die Freiheit vergönnt war, eine die Resignation überdauernde Kraft des christlichen Glaubens an sich selber zu erfahren. Es hat schon sein Gewicht, wenn dieser von Enttäuschung und Krankheit gezeichnete Mann ungefähr zehn Tage vor seinem Tode heiter und gelassen seinen Glauben bezeugt:

"Himmlischer Vater, ists wahr, soll ichs glauben, dass du deinen Sohn in die Welt geschickt und mir ihn geschenket, dass er für mich hat müssen Mensch werden und sein Blut vergießen? 0 ja, das hat keinen Zweifel. Dass ich denn wieder sage: Ei, so will ich mein Lebtage Gott dafür danken, ihn loben und preisen." [146]

Diese Gewissheit verbindet sich mit einem nüchternen Wissen über den Menschen, dem er Geschenk und Aufgabe des Glaubens an Christus eindringlich in dieser Predigt vor Augen stellt:

"Siehe, das ist unsere Lehre, wie wir unserer eigenen Unreinigkeit und Sünde sollen los werden, die heißt kürzlich also: Glaube an Jesum Christum, so sind dir deine Sünden vergeben: Darnach wehre denn auch der Sünde, lege dich dawider, zerkratze dich mit ihr, lass sie nicht tun, was sie gelüstet; nicht hassen noch betrügen den Nächsten, sondern ihm freundlich und hülflich sein ... " [147]

111 EA 27, 185.

112 EA 27,199.

113 EA 27,190.

114 EA 27, 191.

115 EA 27, 189.

116 EA 27, 186.

117 EA 53, 41.

118 EA 22, 143.

119 EA 29,21.

120 EA 28, 298.

121 EA 53,265.

122 EA 11, 221 f.

123 EA 24/ 274.

124 EA 54,130.

125 EA 54, 130.

126 EA 1,78 und 80.

127 EA 1, 89.

128 EA 22, 89.

129 EA 55, 223.

130 EA 21, 6.

131 EA 21, 8.

132 EA 21, 7.

133 EA 39,253.

134 EA 39, 252.

135 EA 39, 255.

136 EA 43, 313.

137 EA 21, 284.

138 EA 24, 154.

139 EA 12, 352.

140 EA 7, 14f.

141 EA 43,312.

142 EA 39, 227.

143 EA 46, 185f.

144 EA 56, 139 f.

145 EA 60, 107 f.

146 EA 16/258.

147 EA 16/258.


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