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III.1. Die Gestalt des Paulus im Urteil der Geschichte

Das Bild des Paulus, wie wir es zu sehen gewohnt sind, wird in der Regel durch die Darstellung der Apostelgeschichte bestimmt, da dieses Buch der Bibel uns ein übersichtliches Lebensbild vermittelt, während man den Briefen des Paulus nur bruchstückhaft biographisches Material entnehmen kann, das sich nicht zu einem geschlossenen Bild zusammenfügen lässt.

Nun hat man in der historisch-kritischen Forschung der Theologie schon seit langem schwere Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit der Apostelgeschichte (acta apostolorum) als historischer Quelle vorgebracht. Denn in dieser Schrift wird offensichtlich der Versuch gemacht, Konflikte zwischen Juden und Heidenchristen zu verdecken bzw. auszugleichen. So konnte der Eindruck entstehen, als ob von den Anfängen her zwischen Juden- und Heidenchristen ein brüderliches Einvernehmen bestanden hätte.

Die historisch-kritische Forschung spricht hier mit gutem Grund von einer die geschichtlichen Tatsachen verschleiernden Harmonisierung. Man wird daher die Apostelgeschichte nur mit Einschränkung und großer Vorsicht als Geschichtsquelle zu werten haben. Bei dem Versuch, die geschichtliche Gestalt des Paulus zu erfassen, wird man auf die Apostelgeschichte nur dann zurückgreifen können, wenn sie in Übereinstimmung mit den Briefen des Paulus sein Charakterbild zu ergänzen vermag. Die Briefe des Paulus haben in der Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen den unbestrittenen Vorrang. Wo die Darstellung der Apostelgeschichte von der des Paulus in seinen Briefen abweicht, wie es z. B. im Bericht über Jerusalemer Verhandlungen der Fall ist (acta 15, 1 ff. und Galater 2, 1 ff.), kann sie nur insofern einen Wert haben, als sie den ungeschichtlichen Harmonisierungsversuch in einem Konflikt aufdeckt, der für die Anfänge der sich bildenden Kirche bezeichnend war.

Aber auch hinsichtlich der paulinischen Briefe muss die Echtheitsfrage gestellt werden. Die Briefe sind auszuscheiden, die unter dem Namen des Paulus geschrieben worden sind. Es war in damaliger Zeit üblich, sich eines bekannten Namens zu bedienen, sofern man in seinem Geist zu schreiben glaubte. So nahm man auch wie selbstverständlich die Autorität des Paulus in den Briefen in Anspruch, die von der Forschung schon seit langem als unecht erkannt worden sind. Die nachfolgende Untersuchung wird sich in der Hauptsache auf die anerkannt echten Briefe des Paulus (Römerbrief, 1. und 2. Korintherbrief, Galaterbrief, Philipperbrief und 1. Thessalonicherbrief) stützen.

Es fällt auf, dass der Verfasser der Apostelgeschichte ein Charakterbild von Paulus überliefert hat, das mit dem seines Selbstzeugnisses nicht zur Deckung gebracht werden kann. Während uns die Apostelgeschichte Paulus als einen Heiligen schildert, der das Menschliche schon hinter sich gelassen hat, spricht aus den paulinischen Briefen ein Mann, der infolge der Gegensätzlichkeit seiner Aussagen ein Wesen an den Tag legt, das vieldeutig ist und ein widersprüchliches Charakterbild vermittelt. Neben eindrucksvollen Worten über die christliche Liebe (z. B. 1. Korinther 13, 1 ff.) steht ein sehr starker Vernichtungswille, der sich gegen die christlichen Brüder wendet, die seine Glaubensauffassung nicht teilen (z. B. Galater 5, 12: "Möchten doch die Leute, die euch aufwiegeln, sich sogar verschneiden lassen"). Demut in seiner persönlichen Haltung wird abgelöst von einem betonten Selbstbewusstsein. Das vertraute Bild urkirchlicher Einheit, wie es die Apostelgeschichte überliefert, erweist sich durch seine Briefe als eine Übermalung, unter der ein ganz anderes Bild zum Vorschein kommt.

Dieses Bild ist gekennzeichnet durch einen erbitterten Kampf zwischen dem Heidenapostel Paulus und den Uraposteln in Jerusalem. Vermutlich blieb das Verhältnis zwischen Paulus und der Gemeinde in Jerusalem bis zuletzt gespannt. Denn selbst die Apostelgeschichte gibt stillschweigend zu erkennen, dass man sich um Paulus nach seiner Gefangennahme in Jerusalem überhaupt nicht mehr gekümmert hat. Von seiten der Jerusalemer Gemeinde wurde offenbar nicht einmal der Versuch gemacht, ihn aus seiner langen Gefangenschaft in ihrer unmittelbaren Nähe zu befreien. Nach dem Bericht der Apostelgeschichte hat Paulus nach seiner Verhaftung im Tempel anscheinend jeden Kontakt zur Gemeinde in Jerusalem verloren (acta 21, 15-26). Erst in späterer Zeit, als die erbitterten Kämpfe schon längst der Vergangenheit angehörten, konnte sich die Legende der Einmütigkeit herausbilden.

Die Wirklichkeit aber spiegelt sich in den Briefen des Paulus und war durch harte Kämpfe und scheinbar unlösbare Probleme gekennzeichnet. Die Person, welche Bewegung und Unruhe in die Entwicklung der jungen Kirche hineintrug, war ohne Frage Paulus, dessen Gedanken die Theologie aller Konfessionen besonders in Zeiten des Umbruchs stark beeinflussten, wobei die Frage offenbleibt, ob sie in ihrem eigentlichen Anliegen von den späteren Generationen überhaupt noch verstanden werden konnte.

Über dem Gewicht seines theologischen Denkens hat man dem Menschen Paulus meist wenig Beachtung geschenkt und sich damit begnügt, die legendäre Darstellung der Apostelgeschichte als ein gültiges Bild seines Wesens hinzunehmen.

Sein theologisches Denken aber hat auch in der Theologie unserer Zeit zu Schlüssen geführt, die Beachtung verdienen. So behauptet z. B. Karl Barth in seiner Auslegung von Römer 7, 21: "Ein religiöser Mensch sein heißt, ein zerrissener, unharmonischer, unfriedlicher Mensch sein" [24]. Ferner: "Religion ist der Gegner des Menschen, der gefährlichste, den der Mensch (außer Gott) diesseits des Todes hat"[25]. "Religion heißt Spaltung des Menschen in zwei Teile: hier Geist, der sich am Gesetz freut, dort das Gesetz in meinen Gliedern ... "[26].

Barth mag ein genialer Interpret der paulinischen Theologie sein. Aber gerade dadurch wird der Gegensatz zur Lehre Jesu besonders deutlich. Nicht die Spaltung des Menschen, sondern die Heilung eines inneren Zwiespaltes kann als das Ziel der Wirksamkeit Jesu angesehen werden. Eine Spaltungstendenz findet sich in der Lehre Jesu nicht, wohl aber in dem Wirken des Paulus, bei dem sie wie eine unwiderstehliche Kraft immer wieder durchzubrechen pflegt.

Die Aufgabe ist also gestellt, nach den Gründen zu fragen, aus denen eine solche Geisteshaltung erwachsen konnte. Bisher hat man die Dynamik der paulinischen Theologie in ihrer Wirkung auf die Geschichte vornehmlich in der göttlichen Begnadung, die ihm vor Damaskus zuteil geworden sein soll, gesehen, während andere Faktoren, die die Eigenart seines Wesens und theologischen Denkens verständlich machen könnten, nur am Rande in das Blickfeld der theologischen Forschung kamen.

Welche Widerstände einer Forschung entgegenstehen, die psychologische Erwägungen nahelegen, kann man daraus ersehen, dass die Theologie nahezu blind für eine Quelle blieb, die uns einen sehr genauen Aufschluss darüber geben kann, wie Paulus in seinem Wesen auf seine Zeitgenossen gewirkt hat, und wie man ihn damals beurteilte. Gemeint sind die Stimmen seiner Gegner, die Paulus in einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihnen in seinen Briefen zu Worte kommen lässt. Mögen die Gegner auch in ihrer Kritik an Paulus einseitig und in mancher Beziehung befangen sein, kritische Stimmen haben immer ihr Gewicht, da die Augen des Gegners in der Regel ein schärferes Sehvermögen als die des Freundes haben.

Außerdem darf man nicht übersehen, dass es sich bei den Gegnern, die in den Briefen des Paulus zu Worte kommen, nicht um irgendwelche bösartigen Querulanten handelt. Die Briefstellen 2. Korinther 11 und 12 und Galater 2 zeigen deutlich, dass hinter den kritischen Stimmen die verantwortliche Autorität der Apostel stand. Sie waren es, die dem Paulus schwere Vorwürfe machten und damit sein Wirken als Heidenapostel in Frage stellten. Auch wo sich, wie z. B. in Korinth, kritische Stimmen gegen Paulus aus der Gemeinde erhoben, kann mit einiger Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass diese Meinung sich unter dem Einfluss der Apostel in Jerusalem gebildet hatte.

24 K. Barth, Römerbrief, München 1926, 5.249.

25 a.a.0., S. 250.

26 a.a.0., S. 252.


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Last update: 31 Mai 2009 | Impressum—Imprint